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März 2011

Eine Dürer-Handzeichnung in der Graphiksammlung des Herzoglichen Georgianums? (D 38.1, f. 7444, n. 9719)

Die Leistungen des Münchener Gelehrten Martin Deutinger d. J. (1815–1864) auf dem Gebiet der Kunsttheorie und Kunstgeschichte, der Ästhetik und Poetik sind zwar in den Rahmen seiner christlichen Philosophie eingebunden, haben jedoch wegen der tiefen Kenntnisse, die er sich durch umfangreiche Studien erworben hatte, eigenständiges Gewicht erlangt. Manche seiner Ansätze, etwa der, die Kunstgeschichte und Ästhetik wieder aus der Anschauung der Werke selbst heraus zu entwickeln, waren zur damaligen Zeit neu. Eine beeindruckende Vorstellung von den empirischen Grundlagen bei Deutinger vermittelt seine 21 296 Nummern umfassende Sammlung von Kunstblättern (Handzeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche, Stahlstiche, Lithographien, Photographien, 16.–19. Jahrhundert). Deutinger wertete zahlreiche gedruckte Kataloge von Kunstsammlungen des In- und Auslandes sowie weitere artistische Veröffentlichungen für seine kunsthistorischen Forschungen aus. Die Tafeln trennte er dabei für die Graphiksammlung heraus und klebte sie auf Papierbogen. Außerdem erwarb er auf seinen ausgedehnten Reisen Einzelblätter in namhaftem Umfang und klebte sie dann ebenfalls auf. Die handschriftlichen Bemerkungen Deutingers führen nicht nur in das jeweilige Kunstwerk ein, sondern enthalten auch seine bei Museumsbesuchen gewonnenen Eindrücke. Um 1860 fertigte Deutinger eine detaillierte Beschreibung seiner Graphiksammlung an im Rahmen der Vorarbeiten für seinen geplanten illustrierten Führer durch die europäischen Kunstgalerien. Allerdings sollte dieses Projekt an der Ablehnung des Cotta-Verlages scheitern, es erschienen lediglich Spezialstudien über die Galerien in Florenz, Paris und Wien. Nicht zuletzt deshalb blieb Deutingers Kunstlehre in seiner Zeit ohne großen Widerhall und ohne besondere Nachwirkung, zumal sie als integraler Bestandteil des Werkes eines katholischen Philosophen von der protestantisch dominierten Wissenschaft übersehen wurde.

In dem nur wenige Monate vor seinem Tod abgefassten Testament hatte Martin Deutinger 1864 das Herzogliche Georgianum zum Erben seiner Bibliothek und Graphiksammlung bestimmt. Im Testament heißt es: Es „soll die Bildersammlung, welche durch langjährige Sorgfalt u[nd]. zahlreiche schriftliche Notizen eine ziemlich vollständige Kunstgeschichte repräsentiert, […] zum Unterrichte der Seminaristen verwendbar gemacht werden“. Andreas Schmid, 1865 zum Subregens des Georgianums ernannt, oblag die mühselige Aufgabe, innerhalb der nächsten vier Jahre den Standortkatalog der wie gesagt 21 296 Nummern zählenden Kollektion von Kunstblättern zu erstellen; 1870 war das Geschäft tatsächlich vollendet. Die von Schmid nach dem Standort katalogisierten Mappen umfassen Architektur, Malerei und Plastik, chronologisch geordnet nach Schulen und Meistern. Die Materialsammlung zur Malerei dominiert quantitativ Architektur und Plastik, was aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten darf, die letztgenannten künstlerischen Ausdrucksformen seien Deutinger entgangen. Schon an seiner Bibliothek wird deutlich, dass er in seinem ästhetischen Entwurf alle Gebiete der Kunst beachtet hat. Nachdem Andreas Schmid 1877 Direktor geworden war, beauftragte er einzelne seiner Alumnen, den Standortkatalog um einen Zettelkatalog nach Künstlern, Themen und Orten zu ergänzen, der schließlich auf 39 Kapseln anschwoll.

Ein Blatt innerhalb der Deutinger’schen Graphiksammlung zog das Interesse der Benutzer schon immer in besonderer Weise an, nämlich eine Handzeichnung mit dem Sündenfall von Adam und Eva. Dieses Blatt, 22,5 cm breit und 29,5 cm hoch, ist mit dem charakteristische Monogramm Albrecht Dürers (1471–1528) versehen und im selben Zug auf 1510 datiert. Auf die Autorschaft Dürers wies der von Deutinger angebrachte Vermerk „Alb[ertus]. Durer del[ineavit].“ hin, also „Albrecht Dürer hat es gezeichnet.“ Obgleich Deutinger ein Mann war, auf dessen Urteil man sich verlassen konnte, wurden 1994 Erkundigungen über Alter und Provenienz eingeholt, die zu folgendem Ergebnis führten:

Es handelt sich um eine durchaus ansprechende, auch vom Format her absolut identische Nachzeichnung des Originalblattes mit der Darstellung des Sündenfalles in der Albertina Wien (3124 D 98). Es ist davon auszugehen, dass diese Nachzeichnung aufgrund des Wasserzeichens und des Duktus der Feder in das frühe 19. Jahrhundert datiert werden kann. Es existieren Gemeinsamkeiten mit der Arbeitsweise der Vorlagenzeichner für lithographische Werke, die gerade in München zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielten: Zu denken wäre etwa an Johann Nepomuk Strixner (1782–1855) oder an seine Mitarbeiter, die beispielsweise auch Gemälde der Alten Pinakothek reproduzierten.

Fazit: Auch wenn das Blatt leider nicht von der Hand Dürers stammt, so handelt es auf jeden Fall um eine virtuose und qualitätvolle Arbeit. Die Deutinger’sche Graphiksammlung wäre es wert, in einem zweiten, modernen Standards entsprechenden Durchgang inventarisiert zu werden – nur dann kommen Schätze von der Art ans Tageslicht, wie sie in unserem Stück des Monats März vorliegen.

CS

Inventar          Handzeichnung

Zu Deutinger:

Deutinger-Jubiläum 1989. Martin von Deutinger, dem Historiker zum 200. Geburtstag. Martin Deutinger, dem Philosophen zum 125 Todestag (Erdinger Land 11), Wartenberg 1989

Wissenschaft und Religion. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek München zur 500-Jahrfeier des Herzoglichen Georgianums. Aus dem Nachlaß des Philosophen Martin Deutinger. 10. Dezember 1994–15. Februar 1995, München 1994

Zum Kunstverständnis bei Deutinger:

JOHANNES FELLERER, Martin Deutingers Kunstphilosophie. In: ADOLF WILHELM ZIEGLER (Hrsg.), Monachium. Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte Münchens und Südbayerns anläßlich der 800-Jahrfeier der Stadt München 1958, München 1958, S. 212–253

WOLFHART HENCKMANN, Das Wesen der Kunst in der Ästhetik Martin Deutingers. Ein Beitrag zur romantischen Kunstphilosophie (Epimeleia 3), München/Salzburg 1966

Zur Graphiksammlung Deutingers:

CLAUDIUS STEIN, Das Archiv und die Sammlungen des Herzoglichen Georgianums in München. Eine Dokumentation. In: Archive in Bayern 5 (2009) S. 59–106

CLAUDIUS STEIN, Die Sammlungen des Herzoglichen Georgianums. In: MANFRED WEITLAUFF – CLAUDIUS STEIN (Hrsg.), Das Herzogliche Georgianum in München. Strukturelle Untersuchungen zu seiner historischen und gegenwärtigen Gestalt (Münchener Theologische Zeitschrift 2010/4), St. Ottilien 2010, S. 393–405

Zur Dürer-Handzeichnung „Adam und Eva“:

WALTER L. STRAUSS, The Complete Drawings of Albrecht Dürer. Volume 3: 1510–1519, New York 1974, S. 1210 f.


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